In der Schweiz machen vier Sorten 80 % des Kartoffelmarkts aus – das muss sich ändern!

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Stefan Griesser kämpft gegen das Problem verschwindender Kartoffelvielfalt – und lädt uns alle ein, Teil der Lösung zu werden. | 17. Februar 2022 | von Bella

Die Liste der open-source-Sorten ist gerade wieder länger geworden. Kartoffelzüchter Stefan Griesser von VARIETAS hat kürzlich 86 sogenannte Akzessionen von Kartoffeln unter die Open-Source-Lizenz gestellt (Link). Es handelt sich um sogenannte True Potato Seeds (TPS), also Kartoffelsamen. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, was eine zukunftsfähige Kartoffel ausmacht und wie jeder von uns seine eigene lokale Lieblingssorte mitentwickeln kann.

Bella: Stefan, du hast gerade eine ganze Reihe eurer Züchtungen mit der Open-Source-Lizenz geschützt. Auf welche Merkmale achtet ihr bei Varietas denn, wenn ihr an neuen Kartoffelsorten arbeitet?

Stefan: Neben dem Geschmack testen wir zum Beispiel die Lagerfähigkeit der Kartoffeln, aber auch die Hitzetoleranz. Wenn die Pflanzen in einem 30 Grad warmen Treibhaus immer noch Knollen bilden, sagen wir: Okay, die sind für die Zukunft geeignet. Gerade alte Sorten bilden bei Hitze nämlich oft nur grünes Kraut, aber keine Kartoffeln mehr. Neben Ertragstests überprüfen wir auch die Toleranz gegen Krautfäule, Kartoffelkäfer, Schorf und andere Pflanzenkrankheiten. Am Ende sortieren wir auch noch nach Knollengröße. Es gibt Pflanzen, die bilden nur sehr kleine oder sehr große Knollen – die sind dann höchstens für spezielle Anforderungen geeignet.

Bella: Bei dem, was ihr jetzt als Gemeingut geschützt habt, handelt es sich um sogenannte True Potato Seeds (TPS), also Kartoffelsamen aus den oberirdisch wachsenden Beeren der Kartoffelpflanze. Was hat es damit auf sich?

Stefan: TPS braucht man dann, wenn man neue Sorten erzeugen will. Früher hatte eigentlich jeder Haushalt seine eigenen Sorten von Salaten, Kürbissen oder eben Kartoffeln. Züchtung und Erhaltung waren nicht so getrennt. Leider haben wir in den letzten hundert Jahren viel Wissen darüber verloren, wie man Sorten erhält. Und es gibt eben auch nicht mehr die Sortenvielfalt, die wir früher hatten. Das macht es problematisch, wenn man lokal angepasste Sorten haben will. Wenn es keine Sorte mehr gibt, die gut zu den Bedingungen an deinem Standort passt, dann kannst du TPS als Ausgangsmaterial für eine neue lokale Sorte nutzen – egal, ob du professionell züchtest oder nur deinen eigenen Garten bewirtschaftest. Während Saat-Kartoffeln Klone der Mutterpflanze sind, gehen aus den Kartoffelsamen Pflanzen mit unterschiedlichen Genen und somit auch verschiedenen Eigenschaften hervor. Dann kannst du schauen, welche für dich und deinen Garten passen, und diese dann über Knollen weitervermehren. Wenn du wenig Platz hast, könntest du zum Beispiel auf Kartoffeln selektieren, die balkonfähig sind, die du also in einem Plastiktopf anbauen kannst, weil sie hohe Temperaturen aushalten.


Wer an Kartoffeln denkt, befasst sich meist mit den Knollen, selten mit den farbenprächtigen Blüten (Foto: Stefan Griesser)

 

Bella: Du hast gerade auf einen Schlag 86 Akzessionen von Kartoffeln in Form von TPS angemeldet. Das sind eine ganze Menge. Was sind denn das für Kartoffeln?

Stefan: Unsere Absicht war, dass da alle erdenklichen Eigenschaften dabei sind. Wir haben jetzt rote, blaue, längliche, runde, festkochende, mehligkochende, glattschalige und solche mit tiefen Augen – sodass die Leute das auswählen und selektieren können, was sie wollen. Ich biete ihnen somit die Möglichkeit, sich den ersten züchterisch Schritt zu sparen, nämlich die Kreuzung und das Aufreinigen der Beeren. Beim Kunden erfolgt dann der zweite Schritt, die Selektion, und das ist auch gut so, denn Anforderungen und Geschmäcker sind schließlich unterschiedlich.

Ein Bekannter hat kürzlich gesagt: Deine TPS-Kartoffeln, die sollen wie eine Welle durch die Gesellschaft gehen! Das fand ich gut. Die Leute selektieren etwas, was ihnen gefällt, und wenn sie eine gute Sorte im eigenen Garten haben, können sie die Knollen weitergeben. Dann gibt es eine neue Lokalsorte, und wenn die beliebt wird, sogar eine Regionalsorte. So können wir zusammen die lokale Vielfalt und die Resilienz des Systems verbessern. In der Schweiz machen vier Sorten 80 % des Kartoffelmarkts aus. Was die Resilienz von Ökosystemen angeht, sollten eigentlich eher 80 Sorten 4 % vom Markt ausmachen, und daran können wir alle mitwirken.


Die Ähnlichkeit der Kartoffelbeeren zu kleinen, unreifen Tomaten ist kein Zufall: beide gehören zur selben Pflanzenfamilie, den Nachtschattengewächsen (Foto: Stefan Griesser)

 

Bella: Also würdest du dir wünschen, dass wieder mehr Menschen in ihrem Garten Sorten erhalten und weiterentwickeln?

Stefan: Genau! In der Evolutionsbiologie gibt es das Prinzip der Roten Königin. Das geht zurück auf eine Szene in »Alice im Spiegelland« (Fortsetzung von Alice im Wunderland). Alice und ihre Begleiterin, die Rote Königin, müssen so schnell rennen, wie sie können, nur um an Ort und Stelle zu bleiben. Das gilt auch für Anpassungen von Lebewesen an ihre Umwelt: Wenn sich etwas nicht ständig weiterentwickelt, beziehungsweise weiterentwickelt wird, dann verliert es irgendwann das Rennen und verschwindet. Das gilt auch für die Sortenvielfalt, aber wir können alle dazu beitragen, sie zu bewahren.

Bella: Ist diese ständige Weiterentwicklung auch der Grund, warum du dich entschieden hast, die Kartoffeln unter die Open Source Lizenz zu stellen?

Stefan: Ja. Damit nachher keiner den Fuß drauf hat und sagen kann: Nein, das ist jetzt patentiert. Mit dem open-source-lizenzierten Saatgut kann man immer weiterzüchten. Und wir können so verhindern, dass irgendwer aus Material, das wir adaptiert haben, Gewinn schlägt, der nicht mehr in die Gesellschaft zurückfließen kann. Das Problem in der Pflanzenzüchtung ist, dass jeder weiß, dass wir angepasste Sorten brauchen, aber niemand die Entwicklung bezahlen will. Die Politik sagt, das sollen private Firmen machen, aber das funktioniert nicht. Die großen Saatgutkonzerne wollen große Mengen von wenigen Sorten verkaufen. Damit macht man Geld, aber es ist eben nicht nachhaltig. Deren Sorten sind quasi – das ist so ein Witz unter Züchtern – überall gleich schlecht angepasst. Dabei ist es gut möglich, lokal angepasste Sorten zu züchten, die mehr Ertrag bringen als eine Sorte, die für den globalen Saatguthandel entwickelt wurde. In Europa bin ich tatsächlich der Einzige, der TPS offen auf dem Markt verkauft, für jeden frei zugänglich und open-source.


Stefan Griesser inmitten seiner Züchtungen (Foto: Stefan Griesser)

 

Bella: Was ist denn deine persönliche Lieblingskartoffel?

Stefan: Das kommt ganz darauf an. Wenn ich mir Ofenkartoffeln mache, nehme ich gerne Blue Eyes. Aber ich esse beispielsweise auch gerne Heiderot von Karsten Ellenberg oder Moorblut, eine weitere meiner Sorten, als Kartoffelsalat. Den mag ich lieber mit sämigen als mit festkochenden Kartoffeln. Sehr gerne mag ich auch Papas arrugadas, diese kleinen kanarischen Kartoffeln in einer Salzkruste.

Aber so ein, zwei Monate im Jahr esse ich auch mal gar keine Kartoffeln. Denn von September bis Weihnachten verkosten wir immer an die tausend Sorten Kartoffeln – das sind so 20 Sorten pro Tag. Da tut anschließend eine kurze kartoffelfreie Zeit auch mal ganz gut.

 

Sowohl die TPS als auch open-source Speisekartoffel Freeka sind bei VARIETAS erhältlich. Link

 
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