Fünf Gründe für Saatgut-Commons

Alemán

 in Zeiten von Covid-19. | 18. Mai 2020 | von Lea Doobe

Zu Beginn der Pandemie fiel es mir für ein paar Tage schwer, mich auf andere Themen als Fallzahlen und Einschränkungen zu konzentrieren. Auch der Kampf für freies Saatgut ist kurzzeitig hinter all die Turbulenzen und täglichen Meldungen zurückgetreten. Heute denke ich: zu Unrecht! Denn viele dieser Meldungen waren nichts anderes als Hinweise darauf, an welchen Stellen unser System erkrankt. Das Ernährungssystem ist eine dieser Baustellen. Heute darum 5 Gründe, warum wir jetzt erst recht ein Saatgut-Commons brauchen.

[Der Begriff Commons ist Dir neu? Erfahre hier, was sich dahinter verbirgt.]

 

1. Saatgut-Commons stehen für Selbstversorgung statt Abhängigkeit

Das weltweite Ernährungssystem ist vielerorts gefährlich instabil. Exportverbote in einem Land führen zu Knappheit in einem anderen. Ist die Schule geschlossen, fehlt vielen Kindern auch das Schul-Mittagessen. Wer nicht arbeiten gehen darf, ist oft nur einige Tage von Hunger entfernt. [1] 

Insgesamt ist die Abhängigkeit groß. Der Lebensmittel-Sektor ist überwiegend ein Geschäftsfeld von wenigen großen Konzernen. [2] Dabei ist die Marktkonzentration im Saatgutbereich besonders hoch. Mehr als 60% des kommerziellen Saatgutes werden von nur 3 Konzernen kontrolliert. [3]

 

 

Zu Beginn der Pandemie haben die kurzzeitig leergefegten Supermarktregale uns einen Schrecken eingejagt. Vielen wurde zum ersten Mal bewusst, dass Supermarktregale sich nicht von selbst füllen. Wir bemerken plötzlich, wie abhängig wir sind. Und es lässt uns nach Alternativen fragen.

Open-source Saatgut ist eine solche Alternative, denn es erschafft ein Saatgut-Commons in dem Saatgut für alle frei verfügbar ist. Das ermöglicht eine vielfältige und dezentrale Pflanzenzüchtung – Grundlage für die Schaffung eines ökologischeren, faireren und regionaleren Ernährungssystems. 

 

2. Saatgut-Commons fördern Regionalisierung

In Deutschland wurde in den Medien viel über die fehlenden Saisonarbeitskräfte berichtet, die wegen der Reiseverbote nicht ins Land durften. Doch auch mit Hilfe dieser Saisonarbeitskräfte ist Deutschland weit davon entfernt, sich selbst zu versorgen. Wir importieren ca. 2/3 unseres Gemüses und 3/4 unseres Obstes. Demgegenüber stehen Überschüsse bei tierischen Produkten mit hoher Flächennutzung für Futtermittel. [4]

Wir würden in vielerlei Hinsicht von mehr Regionalität profitieren. Natürlich wird eine regionale Wertschöpfung weniger stark von einem „Lockdown“ beeinflusst. [1] Aber darüber hinaus ist sie ebenso gut für das Klima wie für die regionale Wirtschaft.

 

 

Der Bereich Züchtung und Saatgutproduktion wird allerdings bei regionalen Wertschöpfungsketten häufig noch ausgeklammert. Wir plädieren daher dafür, dies zu ändern und auch das Thema Saatgut hier mitzudenken. Pflanzenzüchtung sollte uneingeschränkt und nah am Anbau stattfinden, um die Vielfalt und regionale Anpassung zu ermöglichen. [5]

 

3. Saatgut-Commons stärken Gemeinschaft

Covid19 hat die prekäre Lage der Arbeitskräfte in der Agrar- und Lebensmittel-Industrie beleuchtet. Natürlich mussten diese Menschen für unsere Versorgung weiterarbeiten – doch gesundheitsfördernde Hygiene-Regeln, Social Distancing usw. konnten vielerorts nicht gewährleistet werden. Diese Menschen arbeiten unter erhöhtem Risiko und trotz ihrer Systemrelevanz meist zu sehr geringen Löhnen. [1]

An dieser Stelle kommt der soziale Aspekt der open-source Idee zum Tragen. Open-source steht für Gemeinwohl, ein Commons steht für Bedürfnisorientiertheit und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe - etwas, was gerade in den kritischen Berufen im Bereich Gesundheit und Ernährung wegrationalisiert wurde. 

 

 

4. Saatgut-Commons fördern gesunde Agrarsysteme 

Aktuelle Forschung zeigt, dass eine enge Verbindung zwischen dem Aufkommen neuer Viren und unserem industriellen Agrarsystem besteht. Denn zum einen fördert die industrielle Landwirtschaft den Verlust natürlicher Lebensräume und diese Habitat-Zerstörung verstärkt die Interaktion zwischen Menschen und Wildtieren. Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit einer Infektion erhöht. Zum anderen ist der Mensch-Tier Kontakt im Bereich der intensiven Tierhaltung ein weiterer Risiko-Faktor. In gesunden Systemen dagegen existieren natürliche Regulationsmechanismen, die Krankheitserreger in Schach halten und eine Übertragung von Viren auf den Menschen unwahrscheinlicher machen. [6]

Das heißt im Umkehrschluss: die Ökologisierung unserer Landwirtschaft und eine möglichst sinnvolle und nachhaltige Nutzung der vorhandenen Flächen ist gelebte Viren-Prävention. Und Voraussetzung dafür ist wieder: Eine vielfältige Pflanzenzüchtung, welche die passenden Sorten für die verschiedensten Standorte anbieten kann.  

 

 

5. Saatgut-Commons sind die Veränderung, die wir jetzt brauchen

Ja, eine Krise wie die Covid-19 Pandemie kann ein System und auch uns Menschen schon einmal für eine Weile aus der Bahn werfen. Doch in den meisten Fällen unterschätzen wir unsere eigene Resilienz. Nachdem der erste Schock bezüglich der Schwere der Situation überwunden war, wurden ungeahnte Energien freigesetzt.

Natürlich wurden auch industrielle Ansätze als Lösung gefordert – ungeachtet dessen, dass sie mitverantwortlich sind für Armut, Ernährungs-Unsicherheit, den Klimawandel und massive Störungen in unseren Ökosystemen. Doch zeigte sich gleichzeitig ein Aufschwung von Solidarität und Aktivismus in der Bevölkerung für die am stärksten Betroffenen.

Viele Regierungen haben schnell gehandelt, um den Schutz von Arbeitnehmer*innen und die Versorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Eine Reihe von Maßnahmen wurde angestoßen, die zumindest ein kleiner Vorgeschmack auf ein neues, widerstandfähigeres Ernährungssystem sein könnten. So hat beispielsweise die kanadische Provinz British Columbia die Arbeit von Gemeinschäftsgärten und Bauernmärkten als systemrelevant eingestuft. [1]

Die aus der Krise gewonnenen Erkenntnisse werden der Idee, Saatgut als Gemeingut zu behandeln, weiter Rückenwind geben. Und das ist wichtig, denn auch wenn Corona irgendwann einmal überwunden ist: der Klimawandel ist es noch lange nicht. #FightEveryCrisis

 

 

Quellen

[1] COVID-19 and the crisis in food systems: Symptoms, causes, and potential solutions, IPES-Food, April 2020

[2] Konzernatlas - Daten und Fakten über die Agrar- und Lebensmittelindustrie, Heinrich-Böll-Stiftung u.a., 2017 

[3] Too big to feed: Exploring the impacts of mega-mergers, concentration, concentration of power in the agri-food sector., IPES-Food, 2017

[4] Wie sinnvoll sind globale Lebensmittelimporte?, BR Fernsehen, 23.04.2020

[5] Vielfalt ermöglichen - Wege zur Finanzierung der ökologischen Pflanzenzüchtung, AGRECOL e.V., 2020

[6] The Ecology of Desease, New York Times, 2012